Seit Beginn unseres Projekts in Bihar betonen wir wieder und wieder, dass wir auf eine Umsetzung des Rechts auf Bildung hinarbeiten. Doch was bedeutet das und was unterscheidet uns von anderen Vereinen? Und warum haben wir uns für diesen Weg entschieden?
Viele Vereine und Organisationen aus Deutschland betreiben oder finanzieren in Indien Schulen. Diese Schulen sind oft unter christlichen Trägerschaften oder von Nichtregierungsorganisationen betrieben. Lehrkräfte und Mittagessen werden dabei oftmals von den Spendengeldern aus Deutschland finanziert. Das Resultat: Schöne Bilder (relativ) gut ausgestatteter Schulen, Kinder in sauberen Uniformen, die in die Kamera lächeln. Das sorgt zum einen für ein gutes Gefühl bei den oft ehrenamtlichen Leitern der Vereine und trägt auch zu einem stetigen Spendenaufkommen bei. Nicht selten gibt es Konstrukte, die es für einen bestimmten Geldbetrag, etwa zehn oder 20 Euro monatlich, ermöglichen, ganz konkret ein bestimmtes Kind zu finanzieren. Diese Patenschaften sorgen für stetige Spenden und für ein Gefühl zu wissen, wo das Geld ankommt.
Warum verfolgen wir einen anderen Weg?
Indien ist kein armes Land. Indien wird von der Weltbank als Land mit mittlerem Einkommen klassifiziert. Allerdings ist Indien gleichzeitig ein Land mit enorm armen Menschen. Insbesondere im Bundesstaat Bihar, in dem wir tätig sind, sind absolute Armut, Hunger und Analphabetismus an der Tagesordnung.
Eine der neun Schulen im Projektgebiet
Dennoch halten wir die oben ausgeführten Charity-Modelle für schädlich und kontraproduktiv. Eine kleine Anzahl von Kindern, die auf diese Schulen gehen, mögen profitieren, die Mehrheit leidet jedoch darunter. Die Tatsache, dass wir in Deutschland gut funktionierende staatliche Schulen haben, geht auch darauf zurück, dass man sich nicht mit Almosen zufrieden gab. Bildung ist kein Geschenk. Bildung ist ein Recht. Auch in Indien. Artikel 21A der indischen Verfassung garantiert jedem Kind als fundamentales Recht das Recht auf Bildung. Ein Recht bedeutet auch, dass, wenn es einem verwehrt wird, man dieses einklagen kann. Der Staat ist verpflichtet, funktionierende Schulen bereitzustellen. Dazu verpflichtet die indische Verfassung und diverse internationale Abkommen, die Indien unterzeichnet hat.
Wir haben uns daher für den schwierigen Weg entscheiden. Wir haben zusammen mit unserer indischen Partner-Organisation die „Bihar Equal Education Initiative“ gegründet. Diese Plattform, der nun schon mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen beigetreten sind, fordert das Recht auf qualitativ hochwertige Bildung ein. Das umfasst beispielsweise die Forderung, die Bildungsausgaben zu erhöhen, für rechtzeitige Auslieferung von Schulbüchern zu sorgen oder eine ausreichende Infrastruktur und Anzahl an Lehrkräften bereitzustellen.
Dafür wurde lokal ein Seminar organisiert, Treffen etwa mit dem Right to Education Forum (dem Forum für das Recht auf Bildung, einer Lobbyorganisation von etwa 10.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften), der National Coalition for Education (der nationalen Koalition für Bildung), Abgeordneten des indischen Parlaments, dem Human Rights Law Network (dem Netzwerk von Anwälten für Menschenrechte) und anderer Individuen und Organisationen fanden statt. Um derartige politische Anliegen effektiv durchsetzen zu können, ist das Schmieden breiter Allianzen notwendig. Man muss versuchen, verschiedene Akteure an einen Tisch zu bekommen und seine Strategie kontinuierlich überdenken. Diese Arbeit produziert, anders als privat finanzierte Schulen nach dem Almosen-Modell, keine Bilder lachender Kinder. Stattdessen sind es oft hunderte Seiten teils sehr technischer Berichte, Gesetze, Haushalte und Gutachten. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass dies der einzig richtige Weg ist. Für Interessierte, die gerne mehr darüber erfahren möchten, wie „Veränderung passiert“, sei das Buch von Duncan Green (Oxfam) „How change happens“ empfohlen. Es ist kostenlos über folgende Webseite als eBook zu beziehen: http://how-change-happens.com/
Die zweite Komponente unseres Projektes besteht darin, neun Schulen in einem Cluster zu verbessern. Neben konkreten Initiativen geht es hier auch darum, Informationen aus den Schulen zu beziehen.
Schulbücher gelagert im Freien Mitte November. Die Hälfte des Schuljahres ist bereits vorbei.
Wurden die Schulbücher ausgeliefert? Gibt es neue Verordnungen von der Block- oder Distrikt-Ebene, die gesetzeswidrig sind? Welche aktuellen Probleme ergeben sich in den Schulen? Sind Kinder mit Behinderungen von den Schulen ausgeschlossen? All diese Daten (sogenannte Primär-Daten, also Daten, die an der Quelle erhoben wurden), sind wichtig und fließen in das Lobbying ein. Daneben erlauben es diese neun Schulen, relativ flexibel kleine Experimente anzustellen und auszuwerten. Derzeit planen wir in jeder Schule einen Prozessbegleiter (Facilitator/Mentor) zu schicken. Es geht darum, das Ökosystem Schule wiederzubeleben. Dazu gehört es zunächst, verloren gegangene Strukturen wiedereinzuführen. In den meisten Schulen gibt es keine Klassen oder Stundenpläne, die umgesetzt werden. Es gibt keine klaren Zuständigkeiten, es wird in der Regel nicht unterrichtet, es gibt keine Materialien, Toiletten werden nicht in Stand gehalten usw. Daneben geht es darum, die oft ungeschulten Lehrer*innen darin zu unterstützen, regelmäßig zu unterrichten und diesen Unterricht auch noch interessant zu gestalten.
Die Schwierigkeit besteht darin, ein System, das kollabiert ist, wiederzubeleben. Wir alle wissen, dass es schwer ist, Gewohnheiten zu ändern. Die Lehrer*innen in den Schulen haben oft nicht das Wissen der Klassenstufen, in denen sie lehren sollen. Niemand möchte sich vor seinen Schüler*innen blamieren. Daneben sind sie es gewohnt, als Sündenböcke für systemisches Versagen zu dienen. Dabei sind sie es, die oftmals für mehr als ein halbes Jahr kein Gehalt bekommen und in Schulen unterrichten sollen, die keinerlei Ausstattung besitzen. Toiletten fehlen nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen. Lehrmaterialien für 5 Cent pro Jahr pro Kind kann man auch in Indien nicht kaufen. Das gesamte System ist so dysfunktional, dass es Lehrer*innen demotiviert.
Hier setzen wir an. Die Bitte, keine Schulungen außerhalb der Klassenräume zu machen, sondern innerhalb der Schulen Unterstützung zu bieten, kam von den Lehrer*innen. Damit haben wir den ersten Schritt zu einer Verbesserung gemacht: wir haben zugehört und die Lehrkräfte in den Entscheidungsprozess einbezogen. Die Ergebnisse und Erkenntnisse aus unseren Interventionen werden wir wiederum an Verwaltung und Politik weitergeben.
Zuletzt gibt es auch noch die Ebene der Verwaltung. Wir haben festgestellt, dass es hier erhebliche Defizite gibt.
Ein Beispiel soll erläutern, wie komplex und absurd das System teilweise ist: In Indien ist es vorgesehen, dass sog. School Management Committees (bestehend hauptsächlich aus Müttern der Schüler*innen) School Development Plans (Schulentwicklungspläne) erstellen. Diese sollen dann über den Block (zur Veranschaulichung verglichen mit einem Landkreis, Treffen mit der Bildungsverantwortlichen für den Block siehe Bild) an den Distrikt (zur Veranschaulichung verglichen mit einem Regierungsbezirk) weitergegeben werden. Dieser Distrikt erstellt dann einen Distrikt-Plan, basierend auf den Plänen für die Schulen. Dieser wird dann an den Bundesstaat weitergegeben. Dieser wiederum gibt dann eine Forderung bezüglich der erforderlichen Finanzen an die nationale Regierung, die 60% der Finanzierung übernehmen soll (im Falle des Bundesstaates Bihar). In der Realität werden diese Schulentwicklungspläne nicht erstellt. Die School Management Committees bestehen fast ausschließlich aus Analphabeten und wurden nicht geschult. Der Distrikt-Plan wird daher relativ losgelöst von den Erfordernissen in den Schulen erstellt. Die nationale Regierung wiederum legt den Haushalt bereits fest, bevor die Forderungen der Bundesstaaten abgegeben wurden, sodass sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Abgabe dieser Forderungen stellt.
Unser Projektmanager Dr. Anand bei einem Treffen mit Mitgliedern des School Management Committees
Diese hohe Komplexität macht es schwer zu durchschauen, warum am Ende kein Geld für neue Klassenräume oder Renovierungen in den einzelnen Schulen ankommt. Wir sind in Kontakt mit mehreren Akteuren (Medien, Anwälte, Lobbyorganisationen), um etwa dieses konkrete Problem auf die Tagesordnung zu bekommen. Die Erkenntnis dieses Missstandes haben wir beispielsweise aus einem Bericht des indischen Rechnungshofes entnommen. Das Lesen derartiger Berichte und die daraus gewonnene Erkenntnis kann jedoch leider nicht mit den lachenden Kindern konkurrieren, wenn es um das Gewinnen neuer Spender*innen geht.
"Das Recht auf Bildung hat in der Praxis oftmals wenig Bedeutung"
"Bürger müssen die Möglichkeit haben, sich bei Stellen zu beschweren, die daraufhin auch handeln"
"Beendet die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Bildung ist eine gemeinsame Aufgabe"
"Es ist schwer, irgendjemanden zur Verantwortung zu ziehen, wenn man nicht weiß, wer verantwortlich ist"
Wir hoffen, Ihnen mit diesem kurzen Einblick eine Idee von unserer Arbeit gegeben zu haben. Wir können Ihnen versichern, dass wir immer versuchen, Ihre Spenden so einzusetzen, dass sich damit systemische Änderungen ergeben, die das Recht auf Bildung ein Stück mehr Realität werden lassen.
Herzlichen Dank!
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